Kampf mit unvollständigem Kader: Tuchels Zwischenbilanz beim FC Bayern

Alex Frieling
Foto: Getty Images

Als Thomas Tuchel das Ruder beim FC Bayern übernahm, waren die Erwartungen hoch und die Aufgabenliste lang – in seinem ersten halben Jahr lief jedoch nicht alles mit den Münchnern glatt. In der aktuellen Spielzeit konnte der 50-Jährige hingegen schon erkennbare Fortschritte markieren, andere Baustellen bleiben noch offen. Denn selbst der richtige Trainer steht vor Herausforderungen, wenn der Kader unvollständig ist. Von der Spielerentwicklung bis hin zu den Herausforderungen eines unvollständigen Kaders – das ist die Zwischenbilanz von Thomas Tuchel beim FC Bayern München.

Die bislang neunmonatige Amtszeit von Thomas Tuchel in der bayerischen Landeshauptstadt hatte ihre Höhen und Tiefen. So legten die Bayern einen glücklichen, jedoch wenig überzeugenden Saisonabschluss unter dem 50-Jährigen hin. Die aktuelle Saison hingegen bietet bereits einige Ansätze, die den FCB-Fans Hoffnung machen können, andere Baustellen bleiben seit geraumer Zeit bestehen.

Tuchels Defensive: Strukturiert, organisiert – und dennoch mit Aussetzern

Eine Kritik, die sich Thomas Tuchel in der bisherigen Saison des Öfteren gefallen lassen musste: Es sei keine klare Handschrift zu erkennen. Blickt man aber auf den Verlauf der Hinrunde, so wird deutlich, dass der 50-Jährige schon an einigen Stellschrauben gedreht hat und sein Team eine durchaus positive Entwicklung nimmt.

Der Champions-League-Sieger von 2021 konnte (trotz der dünnen Personaldecke) die Defensive der Münchner nach anfänglichen Schwierigkeiten enorm stabilisieren und mit der Zeit eine eingespielte Viererkette formieren, die sich in der Summe nur wenige wirkliche Ausrutscher wie gegen Eintracht Frankfurt leistete.

Tuchel ist bereits in der Vergangenheit ein Trainer gewesen, der gleich zu Beginn viel Wert auf die Arbeit gegen den Ball legte, was durchaus öfter eher unkonventionellen Offensiv-Fußball zur Folge hatte. Alleine die Statistiken belegen, dass der FCB-Coach deutlich mehr Routine, Sicherheit und Organisation in die Münchner Viererkette brachte.

Und das, obwohl er mit einem wirklich dünnen Kader arbeiten musste, Spieler wie Leon Goretzka phasenweise in der Innenverteidigung ranmussten sowie Minjae Kim und Dayot Upamecano bei weitem nicht über die volle Hinrunde bei 100 Prozent waren. Hier muss man klar sagen: Tuchel hat mit diesem unvollständigen Team das Maximum aus der Defensive herausgeholt.

Gleichzeitig muss man aber auch erwähnen, dass sich die Bayern in der Defensive immer wieder Aussetzer erlaubten – neben dem Frankfurt-Spiel muss hier auch das Pokal-Aus in Saarbrücken oder die Partie bei Galatasaray Istanbul erwähnt werden, wo man auffällig schnell unter die Räder kam und auch im Spielaufbau keine wirklichen Lösungen unter Druck fand. Auch zuletzt wurde gegen den VfL Wolfsburg deutlich, dass die Bayern bei hoch pressenden Gegnern schnell die Struktur verlieren. Tuchel wird diese Spiele definitiv im Winter zum Anlass nehmen, um noch Stabilität in die Verteidigung zu kriegen.

Tuchels Spielweise und sein Offensiv-Fußball: Zwischen famos und farblos

Blickt man auf das Offensivspiel der Bayern unter Thomas Tuchel, so wird deutlich: In Phasen zeigen die Münchner herausragenden und spektakulären Fußball wie gegen den BVB, den VfB Stuttgart oder den SC Freiburg, auf der anderen Seite wirkt die Spielweise trotz der zahlreichen Top-Stars aber noch sehr ergebnisorientiert und zum Teil farblos.

Klar ist dabei, dass die Offensive noch immer dabei ist, Harry Kane kennenzulernen – der Engländer ist ein ganz anderer Spielertyp, als es ein Robert Lewandowski beim deutschen Rekordmeister war. Deutlich wurde auch, dass man inzwischen sehr abhängig von Jamal Musiala geworden ist. Sobald der 20-Jährige den Bayern fehlt verliert, das FCB-Spiel deutlich an Geschwindigkeit und Explosivität. In der Folge hatte man vor allem zuletzt, als Musiala über mehrere Spiele fehlte, eine kleine Flaute vor dem Tor. Gegen Köln konnte man „nur“ einen Treffer erzielen, blieb gegen Kopenhagen torlos und kam in Frankfurt ebenfalls nur zu harmlosen Torannäherungen (Musiala hier mit 19 Spielminuten).

Dennoch ist hervorzuheben, dass die Tuchel-Offensive ein unheimliches Gespür für die unterschiedlichen Phasen im Spiel bekommen hat. Man verliert nie die Geduld, begeistert nicht selten mit attraktivem Konterfußball und vor allem: Auch wenn die Bayern mal unter die Räder kommen (Auswärtsspiele in Istanbul, Kopenhagen, Leipzig) bleibt man verdammt abgebrüht vor dem Tor und verlässt sich auf die Offensivqualitäten.

Das führt zur Schlussfolgerung, dass die Münchner unter Thomas Tuchel auch in Sachen Mentalität einige Schritte nach vorne gemacht haben. Partien, die man in der Vergangenheit unter Julian Nagelsmann noch aus der Hand gab, entscheidet der amtierende deutsche Meister inzwischen für sich. Im Rückspiel gegen Manchester United zeigten die Bayern deutlich, was für eine eingeschworene Mannschaft sie bereits jetzt sind – ein Fakt, der in der kommenden entscheidenden Phase der Saison noch wichtig werden kann. Und vor allem eine Tatsache, die für den Trainer spricht.

Tuchels Herausforderungen: Mehr Konstanz, Attraktivität in der Offensive, Holding Six

Woran muss Thomas Tuchel nun also intensiv arbeiten? Zum einen ist der gebürtige Schwabe darauf angewiesen, dass die FCB-Verantwortlichen den Kader verstärken werden. In der Innenverteidigung, auf der Rechtsverteidiger und im zentral defensiven Mittelfeld soll (und muss) sich etwas tun. Anschließend muss Tuchel, möglicherweise beim Trainingslager im Januar, die neuen Spieler gut ins Team einbinden und eine große Frage klären: Wer soll die Rolle der Holding Six einnehmen?

Denn insbesondere auf der Sechser-Position konnte der 50-Jährige noch keinen Spieler finden, der für Stabilität und Ruhe sorgt sowie Leader-Qualitäten mitbringt. Sollten die Bayern hier jemanden holen, muss der Bayern-Coach sehen, ob diese Neuverpflichtung das Zentrum besetzt oder ob er es mit bereits vorhandenem Personal (Joshua Kimmich, Alexandar Pavlovic) auf der Sechs versucht.

In der Offensive erhofft man sich sicherlich noch mehr Leistungen wie gegen Borussia Dortmund, wo die Gegner förmlich an die Wand spielt und den attraktiven Angriffsfußball spielt, den man an der Isar gewohnt ist.

Essenziell wird zudem sein, dass die Münchner Aussetzer wie in Saabrbücken oder Frankfurt abstellen und mit noch mehr Konstanz auffallen. Für Thomas Tuchel wird diese Komponente deutlich leichter fallen, wenn er einen breiteren und fiteren Kader zur Verfügung hat.

Alles in allem kann man aber sagen, dass Tuchel sowohl sportlich als auch in Sachen Kommunikation einen sehr guten Eindruck hinterlässt. Vor allem in der Champions League wird sich zeigen, wo die Bayern wirklich stehen und zu was sie in der Saison im Stande sind. Sollte man hier überzeugen, so scheint es durchaus möglich, dass man in der Chefetage des deutschen Rekordmeisters über eine Tuchel-Vertragsverlängerung über 2025 hinaus nachdenken wird.

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